Carol Gigliottis „The Creative Lives of Animals“ ist Ende letzten Jahres erschienen und hat viel Beifall erhalten – interessanterweise nicht nur im Kreis der üblichen Verdächtigen aus den Animal Studies, sondern zum Beispiel vom britischen Economist oder dem Wall Street Journal. Das Buch überrascht mit zahlreichen Beispielen des Erfindungsreichtums unterschiedlichster Tiere – seien es Vögel, Insekten oder Säugetiere. Und es lenkt unsere Aufmerksamkeit auf erstaunliche Details. Im Interview erzählt die Autorin über ihren Zugang zum Thema.

Unsere Blogautorin Susanne hat das Interview mit Carol Gigliotti auf Englisch geführt und ins Deutsche übersetzt.

Immer auf der Suche nach neuen Nahrungsquellen für alle (Foto: Pexels, Casia Charlie)

Warum ist Kreativität wichtig?

Meine Definition beschränkt sich nicht auf menschliche Kreativität. Sie inkludiert individuelle Tiere als kreativ in ihrer einzigartigen, kulturellen und artenspezifischen Weise. Kreativität sehe ich als einen dynamischen Prozess, in dem neue und bedeutsame Verhaltensweisen entwickelt werden. Diese bieten die Möglichkeit, andere auf Ebenen von Kultur, Spezies und Entwicklung zu berühren. Sie berücksichtigt auch den Effekt, den ihre Kreativität insgesamt auf die Biodiversität hat. Zum Beispiel, wenn Tiere ihre Kreativität als Teil einer Gemeinschaft ausdrücken, wie Ameisen oder Bienen. Sie tragen zu einem größeren Ziel bei. Bei Bienen kann man diesen „Hive Mind“ bei der Erkundung eines neuen Platzes für einen Bienenstock und die komplexen Einigungsprozesse beobachten. Wobei den Forschenden immer noch nicht klar ist, wie genau es zum Entschluss für eine der gebotenen Alternativen kommt. Es handelt sich hier klar um bewusste und kreative Vorgänge.

Wie hat sich diese Fähigkeit, Kreativität bei Tieren zu erkennen, entwickelt?

Beim Unterrichten konnte ich beobachten, dass es alle Arten von Intelligenz gibt. Es war mir klar, dass einige Schüler wirklich schlau waren, aber sie haben Dinge nicht ausprobiert, sie haben Dinge nicht verdaut oder konnten Dinge nicht verstehen, wenn sie sie nicht getan haben. Manche Menschen lernen durch Schauen, manche Menschen lernen durch Tun, manche Menschen lernen nur auf auditive Weise. Howard Gardner hat diese verschiedenen Arten von Intelligenzen untersucht, er kam auf 9, glaube ich. Dazu gehört auch die Kinästhetik, was faszinierend ist, denn kaum jemand ist sich dessen bewusst. Tänzer natürlich schon, aber viele von uns nicht. Es gibt all diese Arten des Intelligentseins und des Verstehens der Welt.

Das war für mich der Ausgangspunkt. Wenn Tiere all diese verschiedenen Sinne haben, die wir nicht haben, dann verstehen sie die Dinge auf andere Weise als wir. Der Sehsinn etwa ist bei manchen Tieren ganz anders als bei uns. Wir haben ein bestimmtes Farbsehvermögen, und das gehört zu den Dingen, die wir für selbstverständlich halten. Natürlich gibt es Wissenschaftler*innen, die bereits darauf hinweisen: „Diese Farbe ist nicht wirklich diese Farbe“. Sie kommt uns nur so vor, weil das Licht darauf trifft und wir es so lesen. Wir halten an diesen Dingen fest, wir Menschen verstehen die Welt sehr stark durch unseren visuellen Sinn und durch unseren Gehörsinn. Aber für Tiere gibt es alle Arten von Sinnen und einige Sinne, von denen wir noch nicht einmal wissen, dass sie existieren, verstehen wir nicht.

Die Beschreibung, wie manche Menschen Dinge durch eine emotionale oder körperliche Erfahrung verstehen, legt nahe, dass Kreativität mit Intelligenz verbunden ist und mit Emotionen zu tun hat. Diese beiden Dinge scheinen miteinander verbunden zu sein.

Psychologische Forschung, die sich mit Kreativität beschäftigt, hat erkannt, dass Emotionen und soziale Verbindungen ein großer Motor für Kreativität sind. Genau darum geht es im Kapitel über Emotionen: dass sie mit Kreativität zu tun haben. Die Vorstellung, dass wir mit Menschen verbunden sind, ist ziemlich wichtig, um kreativ zu sein. Warum? Aus vielen Gründen. Vieles davon hat mit dem zu tun, was wir unter Empathie verstehen. Und was manchmal nicht nur Empathie, sondern auch Mitgefühl ist. Diese Forschung beinhaltet die Idee, dass es eine soziale Intelligenz und eine sozial unterstützte Kreativität gibt. Alles Wissen liegt vor uns, wir nutzen es nur auf sehr unterschiedliche Weise.

©creativebin

Kopfüber ins Vergnügen mit kreativen Flugstarts (Foto: Pexels, creativebin)

Ich mag den scheinbar sehr banalen Spruch „Du kannst nicht sehen, was du nicht sehen kannst“.Wenn man keine Wahrnehmung oder keine Sensibilität für etwas hat, kann man es nicht erkennen.

Ich denke, das Gegenteil ist ebenso der Fall: Wenn du etwas sehen kannst, kannst du es nicht sehen, es nicht mehr rückgängig machen. Also frage ich mich immer, wie Menschen, die diese schrecklichen Situationen sehen, in denen sich so viele Tiere befinden, es irgendwie doch nicht sehen. Sie haben kein Bewusstsein dafür, spüren sie nicht. Menschen sind auch sehr gut darin, das, was sie sehen, zu negieren und zu unterteilen. Sie schließen einfach die Tür zu unangenehmen Wahrnehmungen. Sie wären verärgert, wenn diese Dinge Menschen angetan würden, aber „das sind ja nur Tiere“. Die Idee, dass Tiere kreativ sind, ist gerade aus der Position der Tierschützerin strategisch ein entscheidender Punkt, um Menschen verständlich zu machen, dass Tiere nicht „nur Tiere“ sind, sondern bedeutsame, wichtige Wesen. Wir machen einen riesengroßen Fehler, wenn wir das nicht verstehen.

Es ist von fundamentaler Bedeutung, den Verlust zu verstehen, den wir als Menschen haben, wenn wir nicht menschliche Perspektiven ausschließen. Sie verweisen auf Frans de Waal, der fragt: „Sind wir klug genug, um zu wissen, wie klug Tiere sind?“ Und Sie stellen die Frage, ob wir überhaupt Kreativität jenseits der Vorstellungen von menschlicher Bestimmung erkennen können. Tiere scheinen unserer Zeit und unserer Gedanken immer nur dann würdig zu sein, wenn sie etwas für uns tun können. Das ist natürlich eine sehr anthropozentrische Sichtweise, auch ziemlich primitiv. Es ist ein großer Widerspruch – das intelligenteste Tier auf der ganzen Welt sein zu wollen, wenn man keine Vorstellung von anderen Arten der Wahrnehmung hat.

Das Aufzeigen der vielfältigen Fähigkeiten von Tieren ist ein Weg, den Menschen zu erklären, wie Tiere für sich selbst Bedeutung schaffen. Wie sie Individuen sind. Sie brauchen uns nicht. Sie existieren von sich aus, ohne uns. Wenn wir aussterben, sind sie immer noch da.

Kreativität bei Tieren kann von einer Notwendigkeit getrieben sein, sich an ihre aktuelle Umgebung anzupassen. Oder es gibt Situationen, wo Kreativität künstlerisch oder spielerisch angewandt wird. Zum Beispiel bei der Schimpansin Julie, die mit einem selbst designten Grasohrring einen Modetrend ausgelöst hat, dem 8 von 12 anderen Schimpansen in der Gruppe gefolgt sind.

Meine Vermutung war, dass Julie auf einzigartige Weise das Problem gelöst, ein wenig kreative Kontrolle über ihr Verhalten zu erlangen. Sie lebt im Chimfunshi Wildlife Orphanage Trust in Zambia. Neophilie, also von neuen Erfahrungen begeistert zu sein, gibt es bei vielen Spezies. Die Neugier, die viele Tiere zeigen, fördert neue Verhalten bei einzelnen Tieren.

Viele Spezies zeigen Neophilie, also von neuen Erfahrungen begeistert zu sein (Foto: Pexels, Disha Sheta)

Im Buch kommen aber keine malenden Affen oder Elefanten vor. Liegt das daran, dass Menschen diese typisch anthropozentrische Vorstellung von Kreativität haben, die mit einem Klischee von Kunst zu tun hat?

Tiere, die in diesen typischen Zuschreibungen von Kreativität aktiv sind, kommen im Buch nicht vor, obwohl es sie gibt. Natürlich machen Tiere etwas aus Material wie Farben und Papier, wenn sie interessiert sind. Im Schimpansen-Sanctuary „Save the Chimps“ in Florida malen aber nur 8 von sehr vielen Schimpansen. Sie haben Spaß daran. Der Rest von ihnen hat keine Lust. „Save the Chimps“ hat bei der Biennale in Venedig die Gemälde verkauft. Es waren schöne Gemälde, weil sie intuitiv sind. Weil in diesen Bildern Freude steckt. Die Affen schaffen ihre eigene Bedeutung, indem sie Farbe, Pinsel und ihre Hände und Papier verwenden.

In gewisser Weise ist es also wie eine perfekte Demonstration für vergleichbare kreative Werke. Ich möchte aber, dass die Leute verstehen, dass ich meine Beispiele ausgewählt habe, weil sie dem entsprechen, was wir selbst die ganze Zeit tun. Nicht nur Kunstschaffende, sondern Menschen im Allgemeinen. Wir sind emotional. Wir kommunizieren. Wir spielen. Wir trauern. Elefanten trauern sogar um Menschen: Als der südafrikanische Naturschützer Lawrence Anthony gestorben war, kamen zwei Elefantenherden 12 Meilen zu seinem Haus. In diese Themen und Verhaltenskategorien können sich Menschen einfühlen. Es ist wichtig, unsere Vorstellung von Kreativität zu ändern. Oft gibt es einen Reflex: „Wie gerne könnte ich komponieren!“ oder „Oh, ich wünschte, ich könnte malen…“ Ich kann malen, aber – diese Menschen können wahrscheinlich viele andere kreative Dinge tun, die ich nicht kann.

Versammlung von Bienenfressern (Foto: Pexels, Marcel de Bruin)

Es macht Sinn, über Kreativität im alltäglichen Verhalten zu sprechen. Man kann sich leichter damit identifizieren.

Ein wunderbares Beispiel sind Paradiesvögel. Das Interessante an ihnen, abgesehen von der faszinierenden Schönheit, hat mit Biodiversität zu tun. Und mit einem Thema, das Menschen betrifft: Fortpflanzung. Es gibt dafür, abgesehen von der Paarung, nur sehr wenige Möglichkeiten, zu denen nur wenige Tiere in der Lage sind, wie die Parthenogenese (auch Jungferngeburt genannt). Um also alles am Laufen zu halten, muss man einen Partner finden. Es scheint wie eine verrückte Idee, dass diese Vögel jahrelang Tänze üben – aber warum tun sie das? Sie könnten sich doch einfach so treffen. Aber nein, können sie nicht. Sie tun das, weil die Weibchen sie nicht danach beurteilen, wie schlau sie sind oder wie mächtig sie sind, sondern wie schön sie sind. Und wie gut sie tanzen können. Wenn das nicht menschlich ist, dann weiß ich nicht, was sonst!

Carol Gigliotti ist emeritierte Professorin an der Emily Carr University of Art and Design in Vancouver, British Columbia. Sie war Stipendiatin des John and Betty Gray Writing Residency am Sitka Center for the Arts and Ecology, Oregon, sowie eines Writing Residency am Coppermoss, Tuwanek, British Columbia.

Sie ist die Herausgeberin des Buches Leonardo’s Choice: Genetic Technologies and Animals (Gentechnologien und Tiere). Und sie hat den Graphic Novel „Trump and the Animals“ geschrieben und animiert.

(Foto: © Calder Lorenz)

 

The Creative Lives of Animals

Carol Gigliotti
New York University Press 2022
304 Seiten
€ 37,99
ISBN 978-1-4798-1544-9

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Ein Artikel von Susanne Karr
veröffentlicht am 21.03.2023
Als Philosophin und Journalistin beschäftige ich mich mit der Verbundenheit von menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen. Darum geht es auch in meinem Blog www.aureliapangolini.com
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