Vegan leben in Ungarn: Zwischen Aufbruch und Ausgrenzung
1978 gab es in Österreich vier vegetarische Restaurants und obwohl die medizinischen Vorteile fleischloser Ernährung bekannt waren, wurden Vegetarier in der Bevölkerung eher belächelt, wenn nicht sogar verhöhnt. Doch bereits in den 80ern kam ein Aufschwung in der gesellschaftlichen Akzeptanz. Heute haben wir allein in Wien 145 vegetarische Speisemöglichkeiten und man wird im Alltag auch nicht mehr so schnell verspottet für seinen Lebensstil.
Eine fleischlastige Küche wird erneuert
Bei unseren östlichen Nachbarn in Ungarn hat es ein wenig länger gedauert. In der Mangelwirtschaft der 70er und 80er Jahre konnte man sich die Lebensmittel oft nicht aussuchen, damit war Fleisch auch etwas Besonderes, was man nicht verschmähte. Dazu kommt, dass die ungarische Küche (z.B. im Gegensatz zur Italienischen) an sich schon wenig fleischlose Rezepte zur Verfügung stellt. Zwar gab es 1920 mit Béla Bicsérdy einen sehr populären Lebensreformer und Sportler, der ein von Tierprodukten freies Leben und reine Pflanzenkost propagierte. Jedoch dauerte es bis nach der Wende in den 1990er Jahren, bis sich Menschen zusammenschlossen und strukturiert die vegetarische Lebensweise vertraten. Es erschienen erste Zeitschriften und Vereine wurden gegründet.
Heute, in der jungen, international vernetzten Gesellschaft von Budapest und anderen großen Städten des Landes blüht eine reichhaltige, bunte und trendy vegane Restaurantsszene. Auswahl und Qualität sind schon längst auf internationalem Niveau. Auf dem Blog vegan versus travel findet sich ein sehr ausführlicher Post aus 2018, der die Budapester Vegan-Szene beschreibt. Wer Lokaltipps sucht, wird hier fündig werden.
Die rein pflanzliche Kost wurde in den Anfangsjahren oft nur mit gesunder Ernährung und „Diät“ in Zusammenhang gebracht. Heute ist in Ungarn die vegane Kultur sehr stark mit Tierschutzaktivismus verbunden, dutzende private Initiativen bemühen sich, dem Tierschutz im Land mehr Stimme zu verleihen. Eine der großen Plattformen, MAVEG – Ungarische Vegane Vereinigung, organisiert nicht nur Festivals und Food Markets oder startet Petitionen. Sie unterstützt Menschen auch in rechtlichen Belangen, wenn diese wegen ihrem vegetarischen/veganen Lebensstil im Alltag diskriminiert werden. Zum Beispiel stellt MAVEG einen (natürlich veganen) Rechtsanwalt, wenn es darum geht, für die Rechte der VeganerInnen im Bereich Krankenhausverpflegung, Schulkantinen oder am Arbeitsplatz einzutreten.
Veganismus als politisches Statement
Und dies ist leider auch oft notwendig. In Orbáns Ungarn von 2020 sind Vegetarismus und Veganismus wieder zu Schimpfwörtern geworden, fleischlos lebende Menschen werden als Staatsfeinde betrachtet. Kein Fleisch essen zu wollen und dazu in der Öffentlichkeit auch zu stehen, das ist seit einer großangelegten Initiative der Regierung, mit der die Fleischindustrie gestärkt werden soll, zu einer politischen Handlung geworden. Es gilt als „patriotische Pflicht“ Fleisch zu essen, denn man unterstützt damit die ungarische Wirtschaft. Es ist ausserdem verdächtig, wenn jemand die alten Traditionen der ungarischen Küche nicht hochhält: Wer sich so verhält, ist alternativ, wählt wahrscheinlich links oder findet den liberal-progressiven George Soros gut.
Die Regierung hat kürzlich Dekrete erlassen, welche die Verhältnisse klarstellen sollen: An Schulen und in Kindergärten sind fleischlose Gerichte verboten worden, etwaige Gerichte, die kein Fleisch enthalten, dürfen nicht als „vegetarisch“ sondern nur als „fleischlos“ angeschrieben werden. Eltern versuchen oft, anhand ärztlicher Atteste Schulen dazu zu bekommen, ihren Kindern vegetarische Kost anzubieten, jedoch ist der Druck von den Orban-treuen Schulbehörden oft größer (vegan.eu; index.hu).
Die vegane Bewegung wird auch durch die Orbán-Regierung auf Dauer nicht aufzuhalten sein, der Same ist gepflanzt und die Menschen sind bereit, gegen Diskriminierungen anzukämpfen. Irgendwann, das wissen wir aus der Geschichte, müssen sich auch autoritäre Regime dem Lauf der Dinge beugen.