Warum Tiere Teil unserer moralischen Gemeinschaft sind

Wie sollen wir Tiere behandeln? Die traditionelle Auffassung, wonach Tiere uneingeschränkt unseren Bedürfnissen unterworfen werden dürfen, gerät zunehmend in Kritik. Es braucht einen ethischen Grundsatzdiskurs über den moralischen Selbstwert von Tieren. Die Entwicklung ethischer Grundhaltungen ist dabei essenziell für den demokratischen Diskurs. Unser Gastautor Wolfgang Damoser hat sich intensiv mit Tierethik auseinandergesetzt.
Schnautze einer Kuh mit weißem Fell und schwarzer Nase vor schwarzem Hintergrund

Nach Kant ist der Mensch keine Sache, die bloß als Mittel gebraucht werden kann. Ist es noch zeitgemäß, dass dieser moralische Selbstzweck nur Menschen zukommt? (Foto: Pexels, Kat Smith)

Was dürfen wir alles mit Tieren tun?

In dieser simplen Frage kulminiert eine Fülle von ethischen Auffassungen. Je nach Kontext gelten für Heim-, Nutz- oder Wildtiere unterschiedliche gesellschaftliche und rechtliche Regeln. Mit den Fähigkeiten und Bedürfnissen der Tiere selbst hat das jedoch wenig zu tun. Als landwirtschaftliche Nutztiere sind sie etwa Ware und Wirtschaftsgut, als Heimtiere Teil unserer Familien. In all diesen Beziehungen werden nicht-menschliche Lebewesen unseren menschlichen Bedürfnissen untergeordnet.

Auch zwischenmenschliche Beziehungen sind von Instrumentalisierungen aller Art geprägt. Unternehmen sehen Andere wahlweise als Human Ressource oder als Kund*innen, politische Parteien sehen primär potenzielle Wähler*innen. Instrumentalisierung ist also immer Teil unseres Alltags. Erst wenn jemand dabei ausschließlich als Instrument zur Erreichung fremder Zwecke in den Blick kommt, besteht ein ethisches Problem. Immanuel Kant schreibt dazu: „Der Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann, sondern muß bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich betrachtet werden.“[1] Dieser moralische Selbstzweck kommt, nach Kant, jedoch nur Menschen zu. Ist das noch zeitgemäß?

Tatsächlich gerät die traditionelle Auffassung vom Menschen als „Krone der Schöpfung“ zunehmend in Bedrängnis. Gerade in jüngerer Zeit bemühen sich Ethiker*innen, den Selbstzweck von Tieren argumentativ zu begründen und bekommen dabei Unterstützung von einem immer größer werdenden Teil der Zivilgesellschaft.

Wer gehört dazu? – Die Frage nach der moralischen Gemeinschaft

Aus philosophischer Sicht steckt hinter derartigen Diskursen die Frage nach der Mitgliedschaft in der moralischen Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft beschreibt als ethisches Modell den Kreis derjenigen Wesen, denen moralischer Selbstwert zugeschrieben wird. Im Laufe der Geschichte wurde dieser Kreis stetig erweitert. Galten vormals nur erwachsene (weiße) Männer als vollwertige Mitglieder, herrscht heute glücklicherweise weitgehend Konsens darüber, dass Ethnie, Geschlecht oder Alter keine adäquaten Kriterien für moralische Schutzwürdigkeit sind – auch wenn dies in der Praxis nicht immer gelebt wird. Entscheidend ist, dass all diese Unterschiede keinen ungleichen ethischen Status begründen können.

In ähnlicher Weise können wir auch über Tiere nachdenken. Niemand wird bestreiten, dass Menschen und Tiere unterschiedliche Fähigkeiten und Bedürfnisse haben. Die Frage ist, ob diese Unterschiede auch ethisch bedeutsam sind. Haben wir als Menschen grundsätzlich das Recht, Tiere als Nahrung zu nutzen? Wenn ja, wie wird dieses Recht begründet? Worin liegt unser (vermeintlich) höherer Wert gegenüber Tieren? Kandidaten für ein solches Kriterium gibt es viele. Von der selbst ernannten Krone der Schöpfung über Sprach- und Werkzeuggebrauch bis hin zur einzigartigen menschlichen Vernunft. Richtig überzeugend erscheinen diese Erklärungen in einer zunehmend säkularen Gesellschaft und mit Verweis auf die hoch entwickelten mentalen und sprachlichen Fähigkeiten mancher Menschenaffen allesamt nicht mehr. Auch die Vernunftbegabung ist ein problematisches Kriterium. Wissen wir genau, was menschliche Vernunft ist und wie wir sie messen können? Wenn uns Vernunft erst zu moralisch schutzwürdigen Wesen macht, wie gehen wir dann mit Menschen um, deren Vernunftfähigkeit eingeschränkt oder (noch) nicht voll entwickelt ist? Sind Kleinkinder oder Komapatient*innen etwa „vernünftiger“ als ausgewachsene gesunde Menschenaffen?

Ethische Grundhaltungen entwickeln

Um diese Fragen zu beantworten, brauchen Demokratien Bürger*innen, die ethische Grundhaltungen entwickeln und diese öffentlich begründen können. Genau das fehlt aber oft in der öffentlichen Debatte. Der allgemeine Tenor lautet: Tiere sind wichtig, aber das Schnitzel ist heilig. Wer die Legitimität von Fleischkonsum oder Nutztierhaltung grundsätzlich anzweifelt, gerät schnell unter ideologischen Generalverdacht. Dabei wird häufig mehr Gewicht auf mögliche Konsequenzen gelegt (Zum Beispiel: Dürfen wir dann kein Fleisch mehr essen? Was bedeutet das für unsere Landwirtschaft?), als auf die Argumente selbst. Dieses Vorgehen dient dann als Vorwand, um Grundsatzdebatten gar nicht erst zu führen. Ähnliche Verweise auf einen vermeintlich „weltfremden“ Diskurs waren auch Minderheiten- und Menschenrechtsdebatten über Jahrhunderte ausgesetzt. Hier zeigt sich eine Schwäche der aktuellen Diskussionskultur. Eine bestimmte Meinung zu einem ethisch relevanten Thema zu haben, ist nicht gleichbedeutend mit einer ethischen Grundhaltung. Man isst vegan, weil es dazugehört und weil einem die Tiere „leidtun“. Man isst ein Schnitzel, weil man das immer schon gemacht hat und deshalb nicht „einfach so“ damit aufhören wird. Die impliziten Prämissen und ethischen Werte hinter solchen Meinungen sind den Wenigsten bewusst, könnten aber von Vielen artikuliert werden.

Ethik als demokratische Aufgabe

Die Auseinandersetzung mit ethischen Prinzipien kann Überschneidungen aufzeigen, wo zunächst keine zu vermuten waren: Wer aus ökologischen Gründen oder aufgrund schlechter Haltungsbedingungen auf Fleisch verzichtet, fällt damit kein grundsätzliches Urteil über den Fleischkonsum selbst. Umgekehrt spielen für Menschen, die aus religiösen Gründen vegetarisch leben, Haltungsbedingungen und Ökologie zumeist keine besonders große Rolle. Ebenso können manche Menschen, die Fleisch konsumieren, dies nur unter der Bedingung, dass lokal produziert und artgerecht gehalten wird, tun. Der relevante Unterschied liegt also weniger in der Meinung selbst, sondern vielmehr in der Art ihrer Begründung. Wer die vermeintliche menschliche Überlegenheit mit Verweis auf sein Menschsein begründet und daraus moralische Rechte ableitet, entzieht sich dem demokratischen Diskurs zugunsten plumper Ideologie.

Ein offener Diskurs in dieser Angelegenheit hätte viele Fragen zu klären: Wie dürfen wir mit Tieren umgehen, wenn sie moralischen Selbstwert haben? Haben Tiere zum Beispiel ein Recht auf Leben, artgerechten Lebensraum und Schutz vor Gewalt? Dabei sind die konkreten und praxistauglichen Implikationen keineswegs vorgegeben. Wie müssen wir Landwirtschaft und Nutztierhaltung gestalten, damit Tiere in ihrem moralischen Selbstwert geachtet werden? Unter welchen Bedingungen dürfen wir Tiere für unsere Bedürfnisse einsetzen? Wer kann im Diskurs für die Interessen von Tieren sprechen und welche Institutionen müssen dafür vorhanden sein oder gar erst geschaffen werden? Diese Diskurse können nicht losgelöst von Menschenrechtsfragen und ökologischen Fragen diskutiert werden, weshalb ethische Grundhaltungen auch als demokratische Aufgabe verstanden werden müssen. Denn unser Umgang mit Tieren ist immer auch ein Sittenbild der menschlichen Gesellschaft.

[1] Kant, Immanuel (2012 [1785]): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Werkausgabe Bd. VII, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 61.

Im Artikel „Unternehmen und Moral – Was wir von Kant über Wirtschaft lernen können“ schreibt Wolfgang Damoser, warum wir Maßnahmen zur sozialen Verantwortung von Unternehmen kritisch begegnen sollten.

Zum Gastautor

Wolfgang Damoser ist Ethiker und selbstständiger Philosophischer Praktiker. Nach seinem Bachelor- und Masterstudium der Philosophie und dem Bachelorstudium Public Management arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Wien und der FH Wien der WKW im Forschungsbereich angewandte Ethik. Seit 2022 ist er Leiter von „Vielosophie – Die Philosophische Praxis“ in Wien. Kontakt: office@vielosophie.at

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Ein Artikel von der Ethik.Guide-Redaktion
veröffentlicht am 25.03.2024
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